Von Jochen Klingovsky
Publikumsliebling Julian Alaphilippe, der wohl weltbeste Allrounder unter den Radprofis, begeistert die Franzosen auch bei der Corona-Tour 2020. Obwohl er das Gelbe Trikot auf unfassbare Weise verliert.
Privas/Stuttgart - Es gibt durchaus Menschen, vornehmlich aus dem direkten Umfeld der Tour de France, die in dem Rennen quer durch Frankreich ein Zeichen der Hoffnung sehen. Und einen Beweis dafür, dass der Sport stark genug ist, das Coronavirus besiegen zu können. Das klingt positiv, und es überdeckt zugleich die trübseligen Bilder vom Straßenrand. Meist herrscht auf den Trottoirs Tristesse, exakt wie verordnet. Die Tour 2020 ist vornehmlich ein TV-Ereignis. Die Franzosen, die sonst zu Hunderttausenden an der Strecke stehen, sitzen nun auf dem Sofa. Begeistert sind sie trotzdem. Von ihrem Rennen. Und von ihrem Liebling.
Hätte ein Boss des französischen Fernsehens das Drehbuch zu dieser Corona-Rundfahrt geschrieben, er hätte ganz sicher Julian Alaphilippe (28) die Hauptrolle zugedacht und ihm möglichst bald das Gelbe Trikot verpasst. Um die Stimmung aufzuhellen, Glanz zu verbreiten, viel Stoff für Geschichten zu haben. Reine Fiktion? Nein! Die Realität ist noch spektakulärer als gedacht.
Tränen der Rührung
Am Ende der zweiten Etappe sicherte sich Alaphilippe mit einem Husarenritt in Nizza den Etappensieg und die Gesamtführung, weinte danach Tränen der Rührung und widmete den Erfolg seinem Vater. Jacques Alaphilippe war am 27. Juni, dem Tag des ursprünglich geplanten Starts der Tour de France, im Alter von 80 Jahren verstorben. „Es erfüllt mich mit Stolz, das Gelbe Trikot zu tragen“, sagte der Sohn am Sonntag. „Es bedeutet eine große Verantwortung.“
Dieser wurde Julian Alaphilippe gerecht, er verteidigte Rang eins sogar bei der ersten Bergankunft am Dienstag in Orciéres-Merlette. Am Mittwoch, auf dem Weg nach Privas, spielte ihm dann allerdings das Reglement einen Streich. Alaphilippe nahm 17 Kilometer vor dem Ziel eine Trinkflasche von seinem Team an, sich zu verpflegen, ist aber nur bis zur 20-Kilometer-Marke erlaubt. Die Jury kannte kein Pardon, brummte Alaphilippe eine 20-sekündige Zeitstrafe auf, er fiel auf Rang 16 zurück. Bei der Siegerehrung bekam Adam Yates das Gelbe Trikot, und er wusste gar nicht, wie ihm geschah. „Niemand will so die Führung übernehmen. Irgendein Offizieller hat mich angehalten und mir gesagt, dass ich aufs Podium muss. Ich hatte keine Ahnung, warum“, sagte der Brite, „aber da ich das Gelbe Trikot nun mal habe, will ich es nun auch eine Weile behalten.“
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Alaphilippe, der mit seinem Spitzbart aussieht wie eine abgespeckte Version von D’Artagnan, dem Weggefährten der drei Musketiere, fühlte sich derweil wie in einem schlechten Film. „Wenn es so war“, brummte er nur, „kann ich nichts dagegen machen.“ Klar ist: Das Gelbe Trikot durch eine Zeitstrafe zu verlieren, ist bitter. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Alaphilippe ohnehin nicht vorhatte, in den nächsten Tagen mit aller Kraft um das begehrteste Stück Stoff des Radsports zu kämpfen. Denn seine Mission ist eine andere, passend zu seiner Geschichte. „Siege zu jagen“, sagt er über sich selbst, „ist das Beste, was ich auf dem Rad kann.“ Bei der Tour ist das allerdings selbst für den weltbesten Allrounder nur dann möglich, wenn das Gelbe Trikot ein anderer trägt. Erst recht, wenn auch noch der Druck einer ganzen Nation auf ihm lastet.
Alaphilippe und sein Team haben andere Ziele
Jeder weiß, wie groß das Verlangen der Grande Nation nach dem nächsten französischen Tour-Sieger ist – der letzte Triumph von Bernard Hinault liegt 35 Jahre zurück. Alaphilippe, der 2019 zwei Wochen in Gelb fuhr und am Ende Fünfter wurde, ist womöglich einer, der diese Sehnsucht stillen könnte. Irgendwann. „Ich sage nicht, dass es unmöglich für Julian ist, eine große Rundfahrt zu gewinnen“, sagt Tom Steels, der Sportliche Leiter des belgischen Teams Deceuninck-Quickstep, für das Alaphilippe fährt, „aber es wird mit Sicherheit nicht diese Tour sein.“ Dafür ist das Profil zu schwer. Und die Konkurrenz zu stark.
Den Sieg bei der Bergankunft am Dienstag sicherte sich der Slowene Primoz Roglic. Und wenn erst die echten Hochgebirgsetappen anstehen, werden auch noch andere einen längeren Atem haben. Weshalb die Taktik von Deceuninck-Quickstep, unabhängig vom Missgeschick mit der Trinkflasche, niemals war, die Gesamtführung um jeden Preis zu behalten. „Ich bin sehr stolz, Gelb zu tragen, aber an unserem Plan werden wir festhalten“, sagte Alaphilippe beim Start in Gap, „ich will das Team nicht ruinieren. Wir sind nicht hier, um das Rennen für drei Wochen zu kontrollieren. Mein Ziel bleibt, Etappen zu gewinnen.“
Was nur zeigt: Gesprächsstoff wird der Publikumsliebling der Gastgeber weiterhin liefern. Und unabhängig davon, ob er dabei im Gelben Trikot fährt oder nicht, werden die Franzosen begeistert verfolgen, wie sich ihr Favorit der Herzen schlägt. Auch wenn sie dabei vor dem Fernseher sitzen müssen.
In unserer Bildergalerie finden Sie die deutsche Radprofis, die in diesem Jahrtausend ins Gelbe Trikot gefahren sind.
September 03, 2020 at 01:38AM
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Tour de France - Julian Alaphilippe: Stoff für Geschichten - Stuttgarter Zeitung
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